Vor 50 Jahren erreichte der russische Jagdflieger Juri Gagarin als erster Mensch das Weltall. Der Jahrestag markiert einen Umbruch in der Raumfahrtgeschichte. Baikonur erfindet sich neu und orientiert sich folgerichtig am Westen – bei Cape Canaveral.
Ein Ortsbesuch von Hilmar Schmundt (Text und Fotos)
Die Steppe schweigt, still liegt die endlose Weite im Mondlicht, ein Ozean aus Sand und Gras, der traumlos schläft. Drei Uhr nachts. Nebelschwaden ziehen über den kasachischen Boden. Plötzlich ein lautes Donnern und Krachen, als würde ein Riese einen Theatervorhang zerfetzen. Ein schmerzhaft heller Lichtpunkt bohrt sich durch den Dunst. »Go, Proton, go!«, ruft Frank McKenna, der gemeinsam mit einer Delegation aus dem Westen auf der Observationsterrasse des »Klub Proton« steht. Proton, so heißt die Rakete, die sich über Startrampe Nummer 39 träge in den Nachthimmel zwischen China und Russland schiebt, betankt mit über 500 Tonnen hochexplosivem Treibstoff.
Der sonst so leutselige Amerikaner wirkt angespannt. Er ist so etwas wie der Reeder dieses Raumschiffs. Aus der Nähe von Washington verkauft der Chef der Firma International Launch Services (ILS) Mitfluggelegenheiten ins All. Zu seiner Kundschaft zählen 35 Satellitenbetreiber aus 15 Ländern, die bei ihm One-Way-Tickets in den Orbit buchen. Eigentlich ist dies ein ganz normaler Start in Baikonur. Doch derzeit steht viel auf dem Spiel für McKenna. Eine Pannenserie belastet den Ruf seiner Firma, zwischenzeitlich ging jedes Jahr ein Satellit auf dem Weg ins All ver- loren. Nichts Ungewöhnliches, Versicherungsexperten rechnen damit, dass rund zehn Prozent aller Raketenstarts in irgendeiner Weise fehlerhaft verlaufen. Das Weltraumgeschäft ist immer noch zum Teil Pionierarbeit.
Der Amerikaner ist schon viele Jahre im Raketengeschäft. Seine Firma akquiriert Kunden, handelt die Verträge aus, überwacht die Herstellung der Raketen in einer Fabrik bei Moskau, begleitet den Start in Baikonur. Vor allem aber kümmert McKenna sich um die begehrte Exportlizenz der USA, die amerikanische Satellitentechnik vor Spionage schützen soll. Mit Hilfe von McKenna versucht Russland, die zentrale Rolle von Baikonur im Satellitengeschäft weiter auszubauen. Offiziell soll das russische Militär vollständig abzie- hen. Danach wird der Weltraumbahnhof in Kasachstan nur noch für zivile Zwecke genutzt; dann können von hier aus noch mehr kommerzielle Satelliten ins All befördert werden.
Plötzlich geht ein Raunen durch den Raum. Ein massiger alter Mann steht in der Tür, mit den trägen, wachen Augen eines Skatspielers, weißen Haaren und einem schlabberigen Trenchcoat. »Der Start heute, das ist eigentlich gar nichts Besonderes«, knurrt Leonid Guruschkin, der technische Leiter des Proton-Programms. Seit über 40 Jahren arbeitet er in Baikonur, 300 Flüge ins All hat er mitverfolgt. Er wird umflattert von einer Entourage aus Männern mit Funkgeräten und misstrauischen Gesichtern und Lederjacken, die wirken wie Statisten in einem Mafiafilm. »Früher haben wir so einen Start jeden dritten Tag gehabt«, sagt Guruschkin, »wir sind die einzigen, die Raketenstarts im industriellen Maßstab betreiben können.« Heute liegen oft zwei, drei Monate zwischen den Proton-Starts.
Der älteste und größte Weltraumbahnhof der Welt ist fast dreimal so groß wie das Großherzogtum Luxemburg, eine Brache aus Sand und Grasbüscheln mit rund 300 klaren Tagen im Jahr, im Sommer brüllend heiß, im Winter bitterkalt. Zwischen den 50 Startrampen stehen verfallene Kasernen. Straßensperren riegeln das Gelände ab.
Baikonur ist gewissermaßen das Gegenstück zum Kennedy Space Center in Florida, Teil einer janusköpfigen Verdoppelung der Infrastruktur im Kalten Krieg, mit jeweils zwei Geschmacksvarianten der Moderne: Das Teilchenforschungszentrum Cern bei Genf fand sein Pendant im Teilchenforschungszentrum in Dubna bei Moskau; das Kaufhaus des Westens in Berlin fand seinen Zwilling im Gum in Moskau; und der Astronaut des Westens fand sein Spiegelbild im Kosmonaut des Ostens.
Anders als im Westen waren in der UdSSR nicht Comics und Kinderbücher der treibende Faktor für die Raumfahrt, sondern streng geheime Strategietreffen, in denen Ingenieure die Order erhielten, das All zu erobern. Die Sternenstadt Baikonur steht nicht für Entertainment und Publicity, sondern für Geheimwissenschaft und Mysterium. Das lässt sich im offiziellen Museum von Baikonur besichtigen. Die Gemälde und Mosaike an den Wänden sehen aus wie russischorthodoxe Ikonen. Nomaden mit Kamelen begrüßen den Lichtschweif einer startenden Rakete wie einst die Weisen aus dem Morgenland den Stern, der sie zur Krippe führt. Während die Astronauten als cowboyähnliche Spacejockeys daherkamen, wirken die Kosmonauten wie himmlische Heilsbringer, mit weit ausgebreiteten Armen, als wollten sie segnen, mit Helmen, die aussehen wie Heiligenscheine. Als wollte der revolutionäre Positivismus das Vakuum füllen, das die Ächtung der Religion hinterlässt. Mit dieser Herausforderung schlagen sich Atheisten spätestens seit der Französischen Revolution herum, als man als erstes Symbol der neuen Zeit die Geneviève-Kirche in Paris umwidmete zu einem Tempel der Nation. Mit wechselndem Erfolg.
»Eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern wäre früher mein schlimmster Alptraum gewesen«, sagt Guruschkin. Baikonur war einst die wichtigste Basis für Interkontinentalraketen, so streng geheim, dass sogar der Name in die Irre führen sollte: Das wahre Städtchen Baikonur liegt gut 300 Kilometer entfernt. Bis heute ist es Besuchern verboten, GPS-Navigationsgeräte mit aufs Gelände zu bringen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lag die Weltraumbasis plötzlich in Kasachstan, aus russischer Sicht also im Ausland. Seitdem nutzt Russland das Areal als Mieter. Die Kaltmiete beläuft sich angeblich auf gut hundert Millionen Dollar im Jahr, das ist etwa so viel, wie ein einziger Raketenstart kostet. Im Kalten Krieg war Baikonur eine der für den Westen bedrohlichsten Raketenbasen, doch nach dem Niedergang der Sowjetunion wurde es zu einer Zeitbombe. Was, wenn die russischen Raketenmänner arbeitslos werden und bei finanzkräftigen Schurkenstaaten anheuern? 1995 gründete der amerikanische Raketenbauer Lockheed Martin mit den Russen das Joint Venture ILS. Davon profitieren beide Seiten. Die größte Stärke der russischen Kosmonauten ist ihre Erfahrung. Die Proton-Rakete wurde in den sechziger Jahren entwickelt und ist seitdem im Einsatz als eine Art Trecker des Orbit, altmodisch und unverwüstlich. Von 320 Starts gingen nur 20 schief.
Unbeirrt setzt man auf altbewährte Rezepte, denn die »Raketenschifffahrt«, wie man es früher nannte, ist noch immer ein experimentelles Geschäft. Und daher stockkonservativ. Jede kleinste Veränderung, jedes neue Schräubchen, könnte das Flugverhalten beeinflussen und zu einem Absturz führen. So werden auch winzige Details eifersüchtig bewahrt – bis hin zum religiösen Ritual, das der Rakete zuteil wird. Vor dem Start wird die Proton-Rakete feierlich von einem orthodoxen Priester mit Weihwasser besprenkelt. Man weiß ja nie – und wenn es die aerodynamischen Eigenschaften des Wassers sind, die irgendwie wirken. So war es eben immer, so soll es auch bleiben.
Nach dem Abzug der Militärs sollen die Geschäfte noch besser laufen. Nach ein paar Drinks schwärmt Guruschkin von einer neuen Blütezeit. Der Veteran träumt von Souvenirshops, Reisebussen und Besuchern aus aller Welt – fast so wie im Kennedy Space Center.
Aber bis es so weit ist, sind es nur die Kunden selbst und deren Gäste, die den Start ihrer Satelliten vor Ort verfolgen dürfen. Der Satellit, der heute auf der Proton-Rakete gen Himmel donnert, wiegt mehr als fünf Tonnen. Eine Art Funkturm im All, der über 70 Fernsehprogramme gleichzeitig ausstrahlen kann. In einem geostationären Orbit, rund 36.000 Kilometer über der Erde, dient er vor allem dem Ausbau hochauflösender HDTV-Programme. Wer eine Satellitenschüssel hat und zum Beispiel auf MTV zappt, empfängt die Videoclips nun über das Gerät aus Baikonur. Die Welt ist süchtig nach Sendern im Orbit, die dabei helfen, Ernten vorherzusagen, Flugzeuge ans Ziel zu führen, Telefongespräche zu übertragen, Internetkommunikation, Fernsehtalkshows. Satelliten sind die vielleicht jüngste Infrastruktur moderner Gesellschaften – und die unsichtbarste.
Halb drei Uhr nachts. Die ausgebrannten Raketenstufen sind längst wie lästiger Verpackungsmüll irgendwo in der dünn besiedelten kasachischen Steppe niedergegangen. Noch in der Nacht jagen Schrotthändler in Allradfahrzeugen zu den Einschlagskratern und zerlegen das Altmetall, um es zu verkaufen oder um Kochtöpfe daraus zu dengeln. Doch was ist mit dem hochgiftigen Raketen- treibstoff, der mit den ausgebrannten Raketenstufen auf die Steppe prasselt?
(Foto: Jonas Bendiksen)
Im Wissenschaftsblatt »Nature« war von Gesundheitsrisiken für Kinder zu lesen. Alles Unsinn, widerspricht ein russischer Ingenieur in Baikonur. Raketentreibstoff, fabuliert er, wirke wie Dünger. Dort, wo Raketenschrott niedergeht, blühe ein wahrer Dschungel: »Aber zitieren Sie mich damit bitte nicht.«
Die Gäste aus dem Westen feiern die ganze Nacht durch – weil sie müssen. Erst gegen vier Uhr stolpern sie die fehlerhaft aufgemauerte Treppe des »Klub Proton« hinab. Das Problem: Ihr Flug- zeug darf erst wieder in der Dämmerung starten. Die Landebahn ist nach wie vor unbeleuchtet wie bei einem Militärflughafen. Das war eben schon immer so.
(3 Film stills: Stanley Kubrick)
Textauszug aus dem Buch „Mekkas der Moderne“
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Weitere Leseproben
Die ersten 16 Kapitel (Cape Canaveral bis Antarktis) Des Buches „Mekkas der Moderne“ als pdf von sendspace, als Datei auf issuu oder slideshare